Kunst gegen Bares: „Kunst und Klamauk gegen Geld!“
Auf kurze Schüttelbewegungen zur Lockerung des Astralkörpers folgt wenig später der ultimative Move. Der Mann, dessen Blutzirkulation gerade das Tänzerherz in ihm übernommen hat, wirft die Arme nach oben in die Luft und reißt sie binnen Millisekunden wieder rasant nach unten. Gleichzeitig sorgen seine im Abstand von einem Meter positionierten Beine für sicheren Halt. Es entsteht ein fulminanter Tanzmove – wild, ehrlich, leidenschaftlich. Und: Es entsteht ein Riss.
Wo normalerweise die Schlange lang und die Hoffnung groß ist, eine Karte für die Veranstaltung „Kunst gegen Bares“ zu erstehen, ist an diesem Montag noch beschauliches Treiben. Um halb sieben sind meine Freundin und ich hier noch ganz allein. Der Grund liegt auf der Hand: Es ist ein sommerlicher Tag in Köln. Richtig gelesen. Entgegen all meiner Vorurteile muss ich zugeben, dass es sehr warm und sehr trocken ist. Hut ab Domstadt! Das erklärt, wieso sich der Ansturm heute zunächst in Grenzen hält.
Kunst gegen Bares: Für fünf Euro Eintritt gibt es einen Abend voller Überraschungen
Bis 20 Uhr haben sich dann doch mindestens 100 Leute eingefunden, um ihren Montagabend in geselliger Runde im Artheater in Ehrenfeld zu verbringen. Eintritt: fünf Euro. Was es dafür gibt? Lest ihr in den nächsten Zeilen.
Die Moderatoren – Hildegart Scholten und Gerd Buurmann – führen durch den Abend. Und das bereits seit mehreren Jahren. 446 Ausgaben gab es bislang. Scholten, ein Künstlerego, trägt stets die gleichen aufreizenden Klamotten. Beigefarbener Rock und biedere, blaue Bluse. Dafür gibt’s Spangen ins Haar, die an ein 14-jähriges Mädchen erinnern. Dazu kommt ein in Pastellfarben gestreifter Turnbeutel: Fertig ist die Kunstfigur Scholten. So unschuldig sie auf den ersten Blick aussieht, Männer nehmt euch in Acht. Als selbsternanntes Sexsymbol hat sie es vor allem auf die Herren im Publikum abgesehen. Frauen, vor allem hübsche, sieht sie als potenzielle Widersacher. Gerne werden diese als Bitches tituliert. Mädels, wenn sie euch so nennt, dürft ihr euch stolz aufrichten und mit gutem Gefühl einschlafen.
Gerd Buurmann trägt klassisch Anzug und verblüfft regelmäßig mit interessanten Lebensweisheiten und Dingen aus der Kategorie: Wussten Sie, dass…? An diesem Abend erfahren wir unter anderem, dass der ukrainische Beitrag zum Eurovision Songcontest die Deportation von hunderttausenden Krimtataren 1944 durch Josef Stalin thematisiert. Der erfahrene Schauspieler und Theaterdarsteller gibt in seinen Soloauftritten bei der Kunst gegen Bares gerne den Mephisto aus Faust zum Besten. Oder interpretiert ein klassisches Gedicht neu zum Sound eines anwesenden Gastkünstlers.
Wer auftritt? Das zeigt sich erst, sobald die Künstler die Bühne betreten
Kurz nach 20 Uhr startet die locker flockige Intromusik. Buurmann und Scholten trällern los. Die Kunst gegen Bares, „das älteste Gewerbe der Welt“, hier gibt’s „Kunst und Klamauk“ gegen Geld. Das Konzept lautet wie folgt: Acht Leute bekommen pro Abend die Gelegenheit, ihre Kunst zu präsentieren. Jeder erhält rund acht Minuten. Wer auftritt? Wissen selbst die Moderatoren erst, sobald sie das erste Mal durch die Stuhlreihen rufen: „Wer hat Kunst dabei? Hand hoch!“ Denn bei Kunst gegen Bares sitzen die Künstler grundsätzlich mit im Publikum. Auf der Bühne erwartet Besucher ein prächtiges Potpourri an lustigen, schönen, skurrilen Acts. Ob Bands, Kabarettisten, Poetry Slammer, Synchronsprecher oder Holländer, die sich zu seltsamen Klängen soweit ausziehen, dass selbst die Moderatoren unruhig auf ihren Hockern sitzen – was man an dem jeweiligen Abend erlebt, ist jedes Mal ein Überraschungspaket. Und übrigens: Meine Fantasie ist bunt. Sehr bunt. Aber den strippenden Holländer habe ich mir nicht ausgedacht…
Der Gewinner wird zum Kapitalistenschwein der Woche gekürt
Am Ende des Abends erhält jeder Künstler ein Sparschwein. Diese werden im Vorraum ausgestellt. Die Besucher werfen nach Belieben Geld ein und bewerten so die Künstler. Gerne erinnert Buurmann: „Überlegen Sie sich, wie viel Ihnen die Kunst wert war. Zur Einordnung: Einmal kacken am Hauptbahnhof kostet einen Euro.“ Der Künstler mit der besten Ausbeute wird zum Kapitalistenschwein der Woche gekürt und präsentiert im Anschluss eine Zugabe. Übrigens: Das Geld aus den Sparschweinen geht zu 100 Prozent an die Interpreten.
An diesem Montag waren gleich mehrere Sänger vertreten. Eine davon hat auch gewonnen: Marie Rauschen hatte das Publikum mit ihren eigenen, emotionalen Songs begeistert. Der für mich wohl unterhaltsamste Auftritt aber war ein anderer. Eine junge Sängerin musizierte mittels einer Loop Station. Damit lassen sich zum Beispiel live eingespielte Beats und Songpassagen aufnehmen und fortlaufend abspielen. So legt sich der Musiker beispielsweise einen geklatschten Beat „unter seinen Song“, der er performt. Da die Idee zu diesem Text leider erst nach dem Abend kam, muss ich gestehen, dass ich weder Namen noch Lied korrekt wiedergeben kann. Anfängerfehler, I know. Meiner Erinnerung nach hieß die Künstlerin Marie Bell und der Song Lucie Gray. (Sollte sie, auf welche Weise auch immer, auf diesen Artikel stoßen, korrigiere ich das selbstredend) Es sei seit Langem ein großer Traum von ihr, einmal mit Background-Tänzern aufzutreten. Scholten und Buurmann ließen sich nicht lange bitten und nahmen ihre Positionen auf der Bühne ein. Um zu lesen, was dann passierte, müsst ihr euch einmal ganz an den Anfang scrollen (es sei denn, ihr habt ein besseres Kurzzeitgedächtnis als ich).
Wir wären aber nicht im kreativen Ehrenfeld, wenn nicht jemand aus den Besucherreihen Nadel und Faden dabei gehabt hätte. Unter anderem die Zustimmung des Publikums gab den Ausschlag, dass sich Buurmann kurzerhand im Scheinwerferlicht seiner Anzugshose entledigte und fortan in Boxershorts moderierte. In schlichten schwarzen. In Köln hätte uns durchaus ja auch der Leoparden-String erwarten können.
Wer noch nie bei der Kunst gegen Bares war, dem kann ich nur ans Herz legen: Schnappt euch den nächsten Montag im Terminkalender und los geht’s. Und wer weiß. Vielleicht erwischt ihr mal einen Abend, an dem eine junge Frau auf der Bühne steht, die zitternd ein Blatt Papier in der Hand hält und einen ihrer Blogtexte vorliest.
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