Die rote Ziffer 0 starrt mich an. Solange ich hinsehe, bewegt sie sich nicht vom Fleck. Sie blinkt nicht, sie verschwindet nicht nach einer gewissen Zeit, sie tut einfach nichts. Bleibt einfach konstant stehen. 0 – in roter, unmissverständlicher Pixelschrift. Seit gestern steht sie da auf meinem Anrufbeantworter. Natürlich tut sie nichts aktiv, schließlich ist mein Telefon keine Person (auch wenn ich durchaus gerne mit meinen Gegenständen spreche, bin ich mir bewusst, dass es nur ich bin, die aus ihnen heraus antwortet). Lediglich übernimmt es seinen Job. Anrufe tätigen oder annehmen, verpasste Anrufe auf den Anrufbeantworter umleiten und Nachrichten aufnehmen. Das alles tat es auch seit jeher sehr zuverlässig. Und immer noch. Und doch macht es mich gerade unglaublich wütend, diese dumme Ziffer anzusehen. Und macht mich traurig. Natürlich kann das Telefon nichts für meine Misere. Von allein drücken sich keine Tasten – ich war es, die ihm den technischen Todesstoß versetzt hat. Womit ich mir quasi selbst ein bisschen ins Herz gestochen habe. Ich habe auf „Basis zurückstellen“ gedrückt. Und nicht rechtzeitig nachgedacht.
Gestern habe ich meinen neuen Router angeschlossen, einer von mehreren Schritten, um hoffentlich bald Internet zu bekommen, das nicht unmittelbar von einer Schildkröte beim Sprintwettbewerb überholt wird. Alles gut geklappt soweit. Bis es an den Telefontest ging, der zunächst nur ein unbefriedigendes Besetztzeichen ausspuckte. Da mir die Kommunikation mit meinen Lieben und dem Pizzadienst wichtig ist, konnte das natürlich nicht so bleiben. In der Bedienungsanleitung stand irgendwas von: „Bringen Sie Ihr Telefon in den Anmeldemodus.“ Ein kluges Ich hätte vielleicht gegoogelt, kurz online recherchiert und wäre den Anweisungen gefolgt. Nun war aber leider stattdessen mein ungeduldiges Ich am Zug, das die Dinge manchmal zu harsch angeht. So kam es nach ein paar Umdrehungen im Telefonmenü zu dem folgenschweren, unwiderruflichen Tastendruck. „Basis zurückstellen“. „Möchten Sie das wirklich?“ Ja, denke ich und bestätige. Noch bevor ich ganz realisiere, was passiert, sehe ich, wie aus der roten 32 in Pixelschrift eine 0 wird. Es folgen innerliche Flüche gegen meine Wenigkeit, gleichzeitig mahnt mich mein heranwachsendes kölsches Wesen und erinnert mich an das vierte kölsche Grundgesetz „Wat fott es, es fott“. Und während ich diese Zeilen schreibe, muss ich selbst schmunzeln. Ausgerechnet das vierte Grundgesetz, hm?
Doch aller kölscher Frohsinn nützt mir hier leider auch nichts mehr. Ich liebe die Vorstellung von einem Anrufbeantworter. Habe mir immer vorgestellt, nach Hause zu kommen, auf die blinkende Taste zu drücken – in freudiger Erwartung der Stimmen von Freunden und Verwandten –, die Jacke im Herumwandern abzulegen und gleichzeitig die Nachrichten abzuhören. Ich persönlich finde es irgendwie unheimlich, auf so ein Gerät zu sprechen und tue es eigentlich nie. Selbst meine Ansage habe ich nicht personalisiert. Aber einige wussten von meiner Liebe zu aufgezeichneten Nachrichten und hinterließen mir wunderbare Stimmprotokolle. Mal meine Nachbarin, mal der Freund meiner Mutter, meine Mama und meine Oma. Sehr viele, wenn nicht sogar die meisten Nachrichten auf diesem Anrufbeantworter stammten von meiner Großmutter. In einem Best of ganz oben stehen würde eine Trilogie: Drei Tage rief sie mich in Folge an – immer war ich gerade außer Haus, mal im Kino, mal beim Sport, mal essen. Die erste Nachricht war freundlich, sie wollte einfach mal hören, wie es mir geht. Die Aufzeichnung am zweiten Tag war wieder nett, sie fragte aber mit leichtem Nachdruck nach, wo ich denn sei und ob ich noch nicht zuhause wäre. Am dritten Tag schließlich wurde sie auf süße Art ungehalten, erzählte mir, sie mache sich langsam Sorgen und müsse jetzt meine Mutter anrufen und sich versichern, ob mit mir alles in Ordnung sei. Als ich diese Nachrichten damals zum ersten Mal gehört habe, wuchs mein Schmunzeln mit jeder Sekunde an. Es war nicht einfach eine Tonbandaufnahme, es war Liebe in Worten, die mir meine Oma geschickt hat. Und das Beste: Ich konnte mir diesen Zuneigungsschub jederzeit erneut anhören. Und das tat ich allzu gerne. Sowohl in frohen Momenten, als auch in traurigen.
Ich nahm mir vor, all die wunderbaren Nachrichten von meinem Anrufbeantworter einmal auf dem Handy zu speichern. So dass ich sie für immer bei mir hätte. Leider zählte dieser Vorsatz zu denjenigen, die man einmal beschließt, aber immer vergisst umzusetzen. Hätte ich die Aufnahmen gespeichert, wäre ich gestern kurz erschrocken gewesen, hätte dann aber erleichtert aufgeatmet. So blieb ich erschrocken. Halb so wild mag man meinen. Sind ja schließlich nur Nachrichten, die keinen staatstragenden Inhalt hatten. Und das mag auch stimmen. Ein Großteil meiner Nachrichten war süß und nett. Aber auch nichts, worum man weinen müsste, sobald es weg ist. Theoretisch gilt das ebenso für die Anrufe meiner Großmutter. Leider mit einem entscheidenden Unterschied. Meine Oma ist Anfang 2015 gestorben.
Dank meinem Anrufbeantworter hatte ich die Möglichkeit, ihre Stimme zu hören. Für manche mag das makaber sein. Schließlich verarbeitet jeder den Tod völlig anders. Ich habe es aber gerne getan, mir hat es Freude bereitet. Da ich die Nachrichten nie gesichert habe, ist das nun Vergangenheit. Einerseits ist Vergänglichkeit etwas, das sich nur schwer fassen lässt. Manchmal jedoch ist sie so klar wie schwarze Schrift auf weißem Papier. Und in manchen Momenten zeigt sie sich in einer roten Ziffer auf schwarzem Display.
Eigentlich möchte ich den Text an dieser Stelle enden lassen. Ich könnte damit gut leben. Da allerdings bei einigen möglicherweise der Gedanke haften bleibt, dass es mir gerade schlecht geht, schreibe ich mit diesen Zeilen weiter. Ja, ich bin sehr traurig darüber, dass ich diese Nachrichten verloren habe. Ich weiß aber, dass sich das nicht rückgängig machen lässt. Und ich weiß ebenso, dass meine Oma niemals ganz verschwindet – unabhängig von diesen Nachrichten, unabhängig von meinen Erinnerungsstücken, unabhängig von allem. Und doch ist es traurig. Ich möchte ihre Stimme einfach nochmal hören.
Vergänglichkeit gehört zu unserem Leben dazu wie die Luft zum Atmen. Wir werden uns immer wieder von geliebten Personen und Tieren verabschieden müssen. Es wird immer diese traurigen Phasen geben. Genauso gehört es aber zum Leben dazu, dass wir neue Menschen treffen, neue Freundschaften schließen und uns verlieben (in viele Vier- und manche Zweibeiner). Das hat uns schon König der Löwen gelehrt, es ist der Circle of Life, der Kreislauf des Lebens. Und gerade ist so eine freudige Phase. Denn vor wenigen Tagen bekam unsere Familie Zuwachs in Form eines noch winzigen Erdenbürgers. Bei meinem nächsten Heimatbesuch werde ich ihn kennenlernen. Und auch unser Weihnachtsfest wird er bereichern. Und ab sofort jeden Verwandtschaftsbesuch, der da kommt. Bis dahin gilt es, viele YouTube-Videos zu sehen zum Thema: „So lassen Sie das Kind nicht fallen.“
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